„Hilfe, ich habe einen Mottenteppich auf meinem Kopf!“ Besser sollte es heißen: „Fantastisch, ich habe wieder einen Mottenteppich auf meinem Kopf!“
Seit Neuestem habe ich eine fast vergessene Handlung in meine tägliche Badroutine wieder aufgenommen. Ich benutze meine Haarbürste, um meine Haare zu kämmen. Ich feiere jedes Mal innerlich ein knallbuntes Fest, wenn ich mit der noch halb eingestaubten Haarbürste durch einzelne Haarsträhnen fahre. Meine Nervenbahnen kitzeln und meine Muskeln zucken mit jeder Handbewegung. Sie rufen zum DJ: „Dreh den Bass auf!“ Mein Herz tanzt und meine Synapsen im Hirn können gar nicht anders als immer wieder ein leuchtendes Feuerwerk in meinem Kopf steigen zu lassen. Bevor ich das Bad verlasse, schau ich eine Millisekunde länger als sonst in den Spiegel und begutachte jeden Morgen aufs Neue das Wunderwerk. Ich habe wieder Haare auf meinem Kopf! Wer hätte das gedacht. Ich nicht.
Die japanische Autorin Marie Kondo spricht in ihrem Buch, „Magic Cleaning – Wie richtiges Aufräumen ihr Leben verändert“, davon den Dingen für ihre geleisteten Dienste zu danken und sich zu verabschieden bevor sie entsorgt werden. Ich dagegen begrüße jedes von mir neu entdeckte Haar freudestrahlend und wünsche einen angenehmen Aufenthalt auf meinem Kopf. Wer weiß, vielleicht hilft es und sie entscheiden sich für einen dauerhaften Wohnsitz bei mir.
Die Rückspultaste.
Rückblickend betrachtet war es ein langer und zäher Weg hin zu dem Moment, seit dem ich mit Stolz anderen auf die Frage, ob sich denn auf meinen Kopf schon was verändert, antworten kann: „Ja, meine Haare wachsen wieder.“ Nebenbei bemerkt, die Frage kam oft, manchmal öfter als mir lieb war.
Seit 2016 lebte ich mit einer Glatze, fehlenden Augenbrauen, teilweise fehlenden Wimpern und meiner kaum erwähnenswerten restlichen Körperbehaarung. Ich trug anfangs ausschließlich Perücken, variierte später auch mal mit Mützen oder Tüchern und seit meiner Schwangerschaft 2018 trug ich fast nur noch Glatze, Tücher oder Mützen. Hin und wieder erhaschte ich ein wachsendes Augenbrauenhärchen, bevor es wieder ausfiel oder die Lücken in meinen Wimpern füllten sich wieder für eine kurze Zeit. Kleine Momente der Hoffnung erloschen relativ schnell wieder.
Auf meinem Kopf aber regte es sich schon Anfang 2017 wieder ganz klang heimlich und unbemerkt. Mein Partner strich mir eines Abends über meinen Kopf, weil er der festen Überzeugung war ich hätte da ein paar Fussel, die es zu beseitigen gilt. Doch sie ließen sich nicht wegstreichen. Wir gingen so nah wie möglich an meinen Schrankspiegel, damit ich detailliert prüfen konnte, was da auf meinem Kopf los war. Ich sah nix als Glatze. Doch mein Freund ließ sich nicht abbringen. Er zückte sein Handy aus seiner Hosentasche und machte eine Nahaufnahme. Da war er – ein neuer Hoffnungsschimmer. Unscheinbar und klitzeklein schillerte es auf der Mitte meines Kopfes.
Doch dabei blieb es dann auch erstmal. Erst ein knappes Jahr später begannen meine Haare sichtbar an der Flaumstelle zu wachsen. Da ich zur selben Zeit vermehrt anfing Glatze zu tragen, wurde die Kopfrasur unausweichlich zur meiner Regelmäßigkeit.
Ich trage keine Perücken mehr.
Während meiner Schwangerschaft verschob sich mein Fokus weg von Alopecia hin zu meiner Tochter. Ich genoss die Schwangerschaft in vollen Zügen und bereitete mich auf das kommende Wunder vor. In dieser Zeit waren mir meine Haare und meine äußerliche Erscheinung so egal wie niemals zuvor. Ich trage seit Sommer 2018 keine Perücken mehr. Die Pflege wurde mir schlichtweg zu umständlich. Ich hatte keine Lust mehr zu planen, wann ich welche Perücke waschen und stylen muss, damit ich sie auch ja zu bestimmten Anlässen tragen kann. Obwohl es mir vorher sehr viel Freude bereitete neue Styles auszuprobieren und zu testen, was mit meinen Perücken alles möglich ist.
Es lebe der Haarwuchs.
Ich bemerkte durchaus, dass aus immer mehr Kopfarealen Haare sprießen. Sie zeigten sich aber nur partiell an einigen Stellen. Es lebte sich mit Glatze also weitaus entspannter, als den Versuch zu starten aus den paar Bereichen eine neue Frisur zu erhoffen. Auch eine Augenbraue wuchs wieder nach und meine Wimpern scheinen mich länger als gedacht mit ihrer Anwesenheit beglücken zu wollen.
Mit der Geburt meiner Tochter im Oktober 2018 hatte ich schlichtweg keine Lust mehr zum Rasieren meines Kopfes. Da die Haarstellen über den Sommer immer großflächiger wurden und der zeitliche Aufwand für eine Rasur sich dementsprechend ausdehnte, hörte ich einfach damit auf.
Ich hatte genug mit den kleinen Wehwechen, in Folge der Entbindung, zu kämpfen und damit die Bedürfnisse meiner Tochter zu stillen. Meine Haare und mein Aussehen wurden mir für ein paar Monate total gleichgültig.
Meine Tochter ist jetzt vier Monate alt. Meine Haare wachsen und wachsen. Einige lichte Stellen wachsen langsam zu, andere sind weiterhin so aalglatt wie der Po meiner Tochter.
Ich hab für mich beschlossen es so zu lassen wie es ist. Ich habe in drei Jahren Alopecia drei Premieren hinter mir. Erst kam die Perücke, dann der Turban, später die Glatze und jetzt zeige ich mich in meiner vierten Premiere mit einem süßen kleinen Mottenteppich auf meinem Kopf.
Ist das mein Abschied von Alopecia? Habe ich bald wieder alle meine Haare?
Ich denke nicht, dass ich bald wieder, mit voller Haarpracht durchs Leben schreiten werde. Ich nehme meine Haare so wie sie wachsen und freue mich über jedes das bleibt.
Ich habe drei Jahre und eine Schwangerschaft gebraucht um die Erkrankung restlos anzunehmen und sie mit meiner Person verschmelzen zu lassen. Das bedeutet aber auch, dass ich auf drei Jahre zurückblicke, die mit vielen schweren Momenten gespickt waren, einigen Vertuschungsaktionen, Unlust, fehlendem Mut und einiges an Traurigkeit.
Diese drei Jahre haben mir aber auch viel geschenkt. Ich habe mich neu kennengelernt. Ich versuche nicht mehr dem Idealbild anderer zu entsprechen und nur das von mir zu zeigen, was die Welt, blind wie sie ist, sehen will. Ich zeige nur noch mich, mit all meinen Fehlern.
Schritt für Schritt habe ich mich geöffnet und Alopecia Platz in meinem Leben geschaffen. Es hat sich mir die Pforte in eine neue Gemeinschaft geöffnet. Die Alopecia Community ist weltweit riesig und sie ist stetig am Wachsen. Betroffene trauen sich immer mehr in die Öffentlichkeit, zeigen mit einem fucking Stolz ihren Makel und sprechen sich gegenseitig so viel Mut zu, dass ich permanent Beifall klatschen könnte.
Mittlerweile liebe ich den Wandel meines Lebens, den ich durch Alopecia erhalten habe. Ich bin an Alopecia gewachsen. Ich fühle mich gut mit mir selbst. Ich bin zufrieden.
Wooooow, ich freu mich so für dich! Super! Ja, da ist irgendwie was in Bewegung, ne? Ich hatte meine deutlichsten Alopezia-Zeiten auch immer bei den großen Umbrüchen. Schwangerschaft, Pille, Pubertät… Soll mal einer sagen, das hätte nichts mit Hormonen zu tun 🙂 Und das dauert. Aber es verändert sich auch.
Und: toller Artikel, du schreibst so angenehm, ich schau mir gerne etwas ab, bei dir!
Ich danke dir für deine lieben Worte, liebe Margherita!!! Ja der Körper macht so einiges mit! 😉 LG Maria
Liebe Maria, ich bin sooo unsagbar stolz auf Dich. Du nimmst Dich so an, wie Du bist und Du bist eine tolle Frau mit einer unheimlichen Ausstrahlung. Herzliche Grüße, Sabrina!