So wurde ich sie los – In nur 3 Monaten

Ich renne.
Meine Füße schmerzen, doch es ist mir egal. Ich renne barfuß, weil ich das Gefühl habe dadurch schneller zu sein. Meine Fußsohlen sind übersät mit kleinen Wunden und Blasen. Ich renne noch schneller, denn ich will endlich ankommen. Meine Waden krampfen, doch ich renne und renne. Ich weiß nicht mehr wann ich damit anfing, doch ich renne schon sehr lange. Vor mir erscheint jedoch kein Ziel. Ich habe nicht das Gefühl endlich anzukommen und meine verdiente Pause machen zu können, um mich auszuruhen und Kraft zu schöpfen.

Also renne ich weiter, immer weiter.

 

Mein kleiner samtweicher Kokon, indem ich aufwuchs, der mich warm hielt, vor mir alles Scheußliche der Welt verschleierte und mir das Gefühl gab, das Leben kann mir nichts Böses anhaben, bekam im September 2012 seine ersten großen Risse – der Monat in dem mein Vater schwer an Krebs erkrankte und die Büchse der Pandora geöffnet wurde.

Ohne es zu merken fing ich an zu rennen

Die darauffolgenden 3 ½ Jahre bestanden für mich darin meine Familie zu unterstützen, meine Beziehung irgendwie zu halten, obwohl diese im Nachhinein betrachtet eh zum Scheitern verurteilt war, und weiterhin meinen Beruf in Vollzeit auszuüben. Ohne es zu merken fing ich an zu rennen.
Ich habe meinen Vater, mit Unterstützung meines Bruders, bis zu seinem letzten Atemzug begleitet und wir haben ihn in seinen letzten Lebenswochen zu Hause intensiv gepflegt. Ich bin gerade mal 29 Jahre alt, als ich den tollsten Vater auf der ganzen Welt viel zu zeitig gehen lassen musste.

Meine Haare fingen unbemerkt an auszufallen

Parallel zu der Zeit, in der es ihm immer schlechter ging und der Druck und die Verantwortungen für mich immer größer wurden, fingen meine Haare unbemerkt an auszufallen.
Der Kokon zerriss ganz klammheimlich in seine Einzelteile.
Meine erste haarlose Stelle am Kopf bemerkte ich im Oktober 2015 über meinem rechten Ohr. Nicht größer als ein 1 Cent Stück. Ich nahm es relativ gelassen hin, denn sowohl meine Mutter als auch meine Großmutter, hatten früher einmal, als sie viel Stress hatten, solch eine kreisrunde Stelle, die dann verhältnismäßig schnell wieder zuwuchs. Als ich jedoch kurze Zeit später die zweite Stelle am Hinterkopf bemerkte, wurde ich stutzig.

Haarlos in 3 Monaten. Hier mit Perücke.
Mein Matti

Ich zeigte beide Stellen meinem besten Freund Matti, da er als Friseurmeister tätig ist, mir schon seit 10 Jahren meine Haare frisiert und meinen Kopf in und auswendig kennt. Er bestätigte mir meine Vermutung und erklärte mir wie sich kreisrunder Haarausfall am Kopf abzeichnet. Er war überrascht über den Umfang der beiden Stellen, da ich nur ein paar Wochen vorher erst bei ihm zum Haare schneiden war und die Stellen zu dem Zeitpunkt noch nicht sichtbar schienen.
Daraufhin recherchierte ich zu Hause stundenlang im Netz, las unzählige Berichte über kreisrunden Haarausfall bei Männern und Frauen – schlauer wurde ich trotzdem nicht. Ich suchte meinen Hausarzt auf und er verwies mich zu einem Hautarzt. Der Hautarzt diagnostizierte Alopecia Areata und gab mir zwei cortisonhaltige Mittel zur Behandlung meines Problems. Er erklärte mir kurz, was hinter der Bezeichnung steckt, dass Alopecia zu den Autoimmunerkrankungen zählt, mein Immunsystem quasi meine Haare als Fremdkörper ansieht und deswegen abstößt und der momentane Stress für das Ausmaß der Erkrankung eine große Rolle spielt. Dann gab er mir einen weiteren Termin und damit wurde ich dann allein gelassen.
Drei Wochen später hatte ich schon so schütteres Haar, so dass ich anfing Stirnbänder in mein alltägliches Outfit zu integrieren und meine Haare nur noch als Zopf geknotet trug. Sogar meine Augenbrauen fingen an auszufallen. Ich war so sehr mit meinem Kopf beschäftigt, so bemerkte ich erst viel später, dass meine Bein- und Armbehaarung auch zum Großteil verschwand.
Der Hautarzt jedoch behandelte mich einfach weiter mit Cortison und gab mir einen weiteren Kontrolltermin. Ich war sehr unzufrieden und suchte mir nach knapp zwei Monaten einen neuen Hautarzt. Dieser verdeutlichte mir ganz unverblümt im Gespräch, dass meine Erkrankung sehr wahrscheinlich zum kompletten Haarverlust führen wird und ich somit Alopecia Areata Totalis habe. Er erklärte mir, dass er mir, wenn ich es möchte, einige weiterführende Therapien anbieten könne, die während des Zeitraums der Behandlung auch Erfolge erzielen können. Die Wahrscheinlichkeit, eines erfolgreichen Haarwachstums nach Beendigung einer Therapie wäre jedoch nicht hoch. Er gab mir auch zu bedenken, was für Nebenwirkungen die verschiedenen Medikamente aufweisen können. Er verwies aber ebenso auf sog. Spontanheilungen, bei denen die Haare einfach wieder von selbst anfangen zu wachsen. Wie lang es bis dahin dauert und ob es überhaupt passieren wird, ist jedoch von Person zu Person sehr unterschiedlich.
Das war im Januar 2016. Zu dem Zeitpunkt trug ich ausschließlich Mützen, denn auf meinem Kopf waren nur noch vereinzelt Haarsträhnen sichtbar.

Ich ging nach Hause und schmiss beide Medikamente in den Mülleimer

Die Worte des Arztes waren eine Offenbarung für mich, denn ich wollte mich keinen Behandlungen aussetzen. Ich hatte für mich verstanden, wenn mein Körper meine Haare momentan abwirft, dann gibt es dafür einen Grund. Symptomatische Behandlungen, ohne Gewissheit auf Erfolg, stellten für mich keine Option dar.
Also ging ich nach Hause und schmiss die beiden Medikamente in den Mülleimer.
Zeit um großartig über meine Erkrankung nachzudenken, geschweige denn mich mit meinen Gefühlen auseinanderzusetzen, hatte ich nicht. Meine gesamte Energie floss in die Sterbebegleitung meines Vaters. Natürlich fühlte ich mich unwohl, anfangs auch kränklich, weil ich überhaupt nicht wusste wie ich mit meinem körperlichen Wandel umgehen soll. Jedoch habe ich alles eine geraume Zeit lang komplett verdrängt.

Mein Bruder rasierte mir die Haare

Mein Bruder kam einen Sonntag auf mich zu und meinte total rational zu mir, dass er mir jetzt die Haare rasieren wird, denn ich sehe mit den paar Fransen noch kränker aus, als ich es tatsächlich bin. Ich selber hätte wahrscheinlich gewartet bis das letzte Haar ausgefallen ist, weil ich es einfach

Meine erste große Liebe. Den Mann wollte ich heiraten, wenn ich groß bin-mein Papa

nicht über mein haarliebendes Herz gebracht hätte diesen endgültigen Schritt zu tätigen. So nahm mir mein Bruder die Qual ab, schleifte mich ins Bad unseres Elternhauses und rasierte mir, mit dem Bartschneider meines Vaters, den letzten Rest auch noch weg. Es hat damit genau 3 Monate gedauert bis zum kompletten Verlust meiner Kopfbehaarung.
Ich setzte mich nach der Rasur zu meinem Vater ans Bett, um ihm das Resultat zu zeigen. Seine erste Reaktion bestand darin über meinen
Kopf zu fahren. Er grinste mich an und sagte mir, dass er mich lieb hat und ich auch so sehr hübsch bin. Für jenen Akt liebe ich diesen Mann.

6 Kommentare

  1. Wow, hallo Maria.
    Wir haben uns seit dem Abi nicht mehr gesehen. Irgendwie betrachtet man die Leute von damals oft nur noch auf ihren Facebook Seiten, sieht ihre glücklichen Bilder und freut sich über ihre positiven Entwicklungen und ist neugierig auf ihr ausgelassenenes zufriedenes Leben. Ich war sehr überrascht, als ich eben über deine Homepage gestolpert bin. Die Realität sieht oftmals doch ganz anders aus. Es macht mich traurig zu lesen was du in der Vergangenheit stemmen und durchleben musstest. Aber ich sehe auch, dass du an Allem gewachsen bist und es noch weiter tust. Ich finde es echt toll, was du hier erschaffen hast. Es gehört auch einfach mal viel Mut dazu offen über das Alles zu schreiben. Mach weiter so!

    Viele liebe Grüße, Anja.

    1. Hey Anja,
      schön von dir zu hören. Vielen Dank für deine einfühlsamen Worte und ich freue darüber, dass dir mein Blog gefällt. Das bestärkt mich darin, dass mein Weg bis jetzt so richtig ist wie ich ihn gewählt habe. Ich hoffe, dass bei dir alles weiterhin im Lot ist und dir deine Mamaaufgaben (Danke an FB 😉 ) viel Freude bescheren.
      Fühl dich umamrmt.
      Liebe Grüße
      Maria

  2. Bei mir fing es auch im Herbst 2015 mit einer Stelle groß wie 2 Euro Münze. Zu Weihnachten 2015 war ich schon komplett haarlos. Ich lese Deinen Blog und finde meine Gedanken auch. Das Schamgefühl, oder das Gefühl, die anderen könnten denken ich bin homosexuell… An die Perücken habe ich mich nicht gewöhnt. Ich fühle mich verkleidet und nicht ich.

    1. Liebe Janina,
      das verstehe ich voll und ganz. Der Umgang mit Perücke ist ja auch gewöhnungsbedürftig. Ich werde bald einen Artikel veröffentlichen, indem ich meine ersten drei Perücken mit ihren Vor- und Nachteilen aufzeige werden. Vielleicht hilft dir das in deiner Perückenwahl ein bißchen weiter. Trägst du deine Perücke überhaupt noch oder nutzt du eher Mützen und Tücher?
      Liebe Grüße

  3. Hallo Maria,

    bei mir war es fast genau so wie bei dir. Innerhalb von drei Monaten war alles weg. Begonnen hat es im Januar 2016. Ende März hatte ich schon meine erste Perücke. Die Wimpern und Augenbrauen fielen dann nach und nach auch aus. Wenn die Körperhaare dann ebenfalls ausfallen heißt es übrigens AA universalis. Ich hab mal ein schönes Zitat gelesen, es ging so (oder so ähnlich): Nicht die stärksten oder klügsten Menschen werden am Ende überleben, sondern die, die sich am besten an veränderte Situationen anpassen können. Anpassungsfähigkeit ist sehr wichtig für uns. Nur so kann man es schaffen nicht zu verzweifeln und der Krankheit vielleicht sogar ein paar positive Seiten abgewinnen.

    Liebe Grüße und bleib so positiv,
    Antje
    (hab dich in der FB-Gruppe entdeckt)

    1. Hey Antje,
      verrückt wie das Leben einem spielt und noch verrückter, dass uns zur gleichen Zeit, das gleiche Schicksal ereilte. Meine Ärztin hält sich sehr bedeckt mit der Aussage Universalis. Ich habe zwar meine Bein- und Armbehaarung verloren, aber nur teileweise meine Achselbehaarung. Meine Augenbrauen sind fusch aber meine Wimpern fast vollständig wieder vorhanden, nur an einer Ecke fehlen sie. Keine Ahnung wie lange das noch so bleibt. Aber ja du hast recht, die Tendenz geht zu Universalis. Ich schreibe deswegen gerne Totalis/Universalis…. Der Teil von dir mit dem Passus der Anpassungsfähigkeit gefällt mir sehr gut. 🙂
      Danke jedenfalls für deine Worte!
      Liebe Grüße

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