In Drag – ein Wirbelsturm aus verglitzerten Bärten und zu viel Liedschatten

Drag

Na das nenne ich doch mal einen gelungenen und für den einen oder anderen einen leicht verwirrenden Auftakt zu meinem ersten Blogartikel.
Und weil mir das nicht unverständlich genug ist, mach ich hier und jetzt mein offizielles Coming out.
Ich lebe privat meinen Fetisch aus, indem ich als Drag Queen verkleidet regelmäßig über Berlins Partymeile ziehe.

Nein, ganz so ist es natürlich nicht.

Tatsächlich lebe ich mit einer Erkrankung, die sich im teilweisen oder gänzlichen Verlust meiner Haare äußert. Damit meine ich nicht ausschließlich meine Kopfbehaarung. Alle Körperstellen können betroffen sein, egal ob Gesicht, Arme oder Beine. Selbst Wimpern, Augenbrauen, oder Nasenhaare können dem Betroffenen Adieu sagen. Alopecia Areata Totalis lautet der schreckliche und für viele Menschen eher nichtssagende Name.
Stellt euch eure unbeliebteste behaarte Stelle am Körper vor und wie nervig ihr es findet, diese regelmäßig zu enthaaren. Bei mir waren es immer die Beine, einfach weil ich zu faul war, diese stets und ständig rocktauglich zu halten, besonders im Sommer. Ich habe dieses Problem nicht mehr. Zurzeit pausiert mein Rasierer und verstaubt in meinem Badschrank.
Die eine oder andere Olivia Jones zahlt wahrscheinlich freiwillig utopisch-hohe Preise, um auch nur annährend mit meinen aalglatten Waden mithalten zu können.
Mittlerweile arrangiere ich mich recht gut mit meiner Erkrankung, was mir den Anlass gab es endlich in die Welt zu brüllen, den Mittelfinger in die Höhe zu strecken und aufzuzeigen, dass es hin und wieder auch ganz cool sein kann, wenn man mit/ohne Haare seinen Alltag gestaltet.

Einer meiner längsten und besten Freunde, „mein Matti-aka Bruder in Spe“, war der Ansicht zu seinem 29’ten Geburtstag müsste eine Party unter dem Titel „Bday in Drag“ her. Das Pflichtprogramm für den gestrigen Abend hieß, zu viel Haar, zu viel Make-Up und bitte zu wenig Fummel. Man mag es kaum glauben aber tatsächlich stellte die erste Anforderung für mich keine Herausforderung dar, denn wo nix an Haaren ist kann viel an Haaren rauf. Viel schwieriger waren für mich Punkt zwei und drei.
Ich bin keine Make-Up-Perfektionistin und mein Kleiderschrank spuckt zum Großteil nur Oberteile mit einem für den Anlass langweiligen Rundhalsausschnitt oder tagestaugliche Blusen aus. In meinem Kleiderhaufen brauchte ich gar nicht erst wühlen. Kurz und knapp, übertrieben sexy oder aufreizend gekleidet standen noch nie auf dem Merkzettel für meine Shoppingtouren.
Was ich ganz klar als erstes von meiner Outfit-to-do-Liste streichen konnte war, die Perücke! Es war ein Kinderspiel. Einmal Amazon angeklickt und zack für `nen Zwanni hatte ich einen Kunsthaar-Kurz-Bob im Briefkasten.

Mein Partner hatte es da noch leichter. Da ich ja schon ein paar Modelle an Echthaarperücken bei mir einstauben lasse, machte er sich den Spaß und setzte für den gestrigen Abend die erste Perücke auf, die ich mir vor über einem Jahr zulegte. Dragqueens für eine NachtZum ersten Mal sah ich wie ein anderer meine Haare trägt. Wir lachten beide Tränen über diese völlig absurde Situation, was sich dadurch verstärkte, dass er dazu noch grotten hässlich aussah. Hätte er an der Miss Drag Queen Of The World teilgenommen, er wäre auf Platz Minus 100 gelandet.

Gleichzeitig wurde mir jedoch bewusst, wie unschön meine erste Perückenwahl war. Mir wurde auch klar wieviel ich eigentlich im letzten Jahr über das Thema Perücken/Haarersatz gelernt habe, wovon ich wiederum zunehmend profitiere. Heute weiß ich, durch meine ersten gesammelten Erfahrungen, viel besser was ich mir auf meinem Kopf vorstellen könnte und was nicht. Auch innerhalb der verschiedenen Qualitätsebenen an Perücken kann ich immer besser Unterschiede festmachen, die mir ermöglichen gezielter nach dem Haarersatz zu suchen, der besser zu mir passt. Zumal ich vor knapp anderthalb Jahren nie im Leben daran gedacht hätte mich in diesen Themen selber schulen zu müssen.

Die Party verlief wie erwartend sehr bunt und schräg ab. Es bot sich mir ein Meer aus behaarten Männerbeinen in High Heels Größe 44 aufsteigend, rosa glitzernden Bärten und so stirnhoch angemalten Augenbrauen, dass sie schon gewillt waren am Hinterkopf wieder herunterzurutschen, wäre da nicht noch die Perücke gewesen. Alle waren sehr verglitzert in dieser Nacht. Nicht anders ist es von meinem Matti zu erwarten.

Für mich war es die erste Party, auf der nicht nur ich mit Perücke rumlief. Mein Vorteil bestand darin, dass im Gegensatz zu den anderen ich eine Perücke getragen habe ohne ständig daran denken zu müssen, dass ich sie trage. Einige der Gäste waren sehr damit beschäftigt dem Spiegel in regelmäßigen Abständen, ihre Haare prüfend, zuzuzwinkern, Spängchen neu festzustecken, damit nicht ständig etwas rutschte oder gar ihre bunte Haarpracht zwischendurch komplett vom Kopf zerrten, da sie darunter irgendwann anfingen zu schwitzen und ihre Haut juckte.

Der gestrige Abend ermöglichte mir eine Quintessenz meines momentanen Lebensgefühls einzufangen:
Ich habe mich so langsam an die Pfiffi‘s auf meinem Kopf gewöhnt und obendrein kann ich sie praktischerweise nach Lust und Laune austauschen und variieren.
Es wird wirklich Zeit für meinen persönlichen Befreiungsschlag. Unverfälscht und rotzfrech, so wie ich eben bin. Es gibt keinen Grund meine Erkrankung zu verstecken und niemandem zu erzählen, dass ich eine Perücke trage. Ich erkenne so langsam, dass ich mir in meiner eigenen Auseinandersetzung mit Alopecia die ganze Zeit selber im Weg stand. Ich habe mich sowohl Unwohl damit gefühlt meine Glatze zu zeigen, als auch Unwissenden zu erzählen, dass ich keine Haare mehr habe.
Obwohl ich eine Erkrankung habe, macht sie mich nicht krank. Diese Erkenntnis für mich im Alltag einzubinden, fällt mir immer noch schwer.
Ich möchte aber auch allen anderen, die im Moment vielleicht noch nicht positiv mit ihrer Erkrankung umgehen können, einen kleinen Halt bieten, mit etwas Glück ein Schmunzeln beim Lesen meiner Texte ins Gesicht zaubern, sie ermuntern sich selbst nicht zu ernst zu nehmen und vielleicht für den ein oder anderen einen Weg aufzeigen und ein paar der Fragezeichen im Kopf eliminieren.

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2 Kommentare

  1. Wow, super interessant und toll geschrieben! Bitte weiter so 🙂 Bin schon auf den nächsten Beitrag gespannt!

    1. Lieber Chris,
      es freut mich, wenn meine Zeilen dir gefallen. Die nächsten Beiträge werden nicht lange auf sich warten lassen.
      Liebe Grüße
      Maria

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