Da saß ich nun, hörte ihren Ausführungen über Krebs und ihrer Erkrankung zu und zermarterte mir gleichzeitig mein Hirn darüber, wie und wann ich sie unterbreche, um sie aufzuklären. Mir blitzte der Gedanke auf, sie einfach in ihren Annahmen zu lassen, mich an meinen Freund zu kuscheln und das Rheinpanorama weiter zu genießen, denn dafür waren wir ja hier. Sobald das Schiff anlegt, sehe ich die Frau doch eh nie wieder.
Ach fuck, dachte ich, grätschte in ihren Satz und sagte einfach nur: „Aber ich habe keinen Krebs. Ich habe eine Autoimmunerkrankung, namens Alopecia.“
Ihre Augenbrauen befanden sich in Sekundenschnelle mitten in ihrer Stirn, ihre Augen nahmen eine unglaubliche Größe an, trotz Blick in Richtung Sonne. Sie formte ein großes Ooohhh mit ihrem Mund und war für einen Moment still.
Ich hatte Glück, es kamen keine Mitleidsbekundungen.
Nur ein paar Minuten bevor das Schiff anlegte, entwickelte sich unsere Unterhaltung zu einem sehr interessanten Gespräch über allgemeine Alternativen zu den üblichen schulmedizinischen Möglichkeiten. Ich lernte eine interessante Frau kennen, weil sie sehr offen und direkt sprach und ich sehr offen und direkt reagierte.
Ein Schloss zwischen Dornen und Blumen
Nächste Haltestelle auf unserer ersten Etappe, dem Rhein – Schloss Sooneck.
Da in unserem heißgeliebten Bulli gefühlte Minus 50 PS unter den Sitzen ratterten, stellte die Eroberung Schloss Soonecks eine kleine Herausforderung für uns da. Mit 30 Km/h ging es einen Kilometer bergauf. Die Straße hatte exakt die Breite unseres Bullis, Gegenverkehr hatte damit Pech. Der Ausblick ließ uns unsere, in Angstschweiß gebadeten, T-Shirts am Körper sogleich wieder vergessen.
Dem Schloss sieht man seine überlebten Familienstreitigkeiten und Kriege an. Ein Mix aus Ruine und wiederaufgebauten Schlosselementen zeigt sich den Besuchern. Die Ruinanlagen wurden zu einem wunderschönen Schlossgarten umfunktioniert. Überall wachsen Rosen, zwischen den Steinen und Restgemäuern finden sich Wilderdbeeren oder Brombeersträucher. Als I-Tüpfelchen erhält man über eine angelegte Aussichtplattform einen wunderschönen Blick über das Rheingebiet. Zusätzlich bot die eigene Gartenschenke zum Ausblick noch eine schönes kühles Getränk und ein paar Sitzgelegenheiten. Optimaler Ort für uns um eine kleine Pause einzulegen, bevor es auf unserem Roadtrip weiterging, Richtung Süden.
Touristeninvasion auf der Romantischen Straße
Mit der Flussüberquerung in Mainz sagten wir dem Rhein, mit seinen zahlreichen Burgen, Schlössern und Weinbergen, goodbye und begaben uns zur Halbzeit unserer Bullitour direkt zu unserem zweiten Etappenziel – die Romantische Straße.
Wir erhofften uns auf unserer Fahrt von Würzburg bis zur Zugspitze zahlreiche Wiesen und Felder, Flussbäche und urige Städtchen zu finden. Ich malte mir eine Strecke aus, die voll ist mit Stille, turtelnden Pärchen, Wäldern, Blumen und allem möglichen an Vögeln und Schmetterlingen. Wir fieberten Schloss Neuschwanstein und der Zugspitze entgegen.
Was wir bekamen waren Japaner.
In Scharen rannten sie von einer Attraktion zur nächsten, ihre Guides immer vorne Weg. Es kam einer versüßten, lachenden, unter Sonnenbrillen und Sommerhüten versteckten und blitzlichtergetummelten Invasion gleich. Egal welche Station wir anfuhren oder abliefen, sie waren einfach da. Selbst die Beschilderungen der Romantischen Straße waren zum Großteil nochmal in Japanisch übersetzt. Sogar viele der Souvenirläden waren auf das Kaufverhalten der Japaner ausgerichtet. Es war verrückt und doch faszinierend anzusehen wie verliebt die Japaner in unsere Kultur sind, mit welch einer nahezu kindlichen Neugier und Freude sie die Städtchen durchwanderten und alle Attraktionen bestaunten. Wir kamen uns teilweise richtig schäbig vor, wenn wir nicht mit dem vorgelebten Enthusiasmus gleichzogen.
Kleiner Bulli mit großer Wirkung auf uns
Für uns war dann doch eher der Weg das Ziel. Der Fokus lag für uns auf unserem Bulli, das Fahren, die Unabhängigkeit zu spüren und weniger darin einen Touristenmagnet nach dem anderen bis ins Detail abzugrasen.
Die Tage on Tour schlichen dahin, jeden Tag waren wir irgendwo anders, waren unser eigener Herr, keine Routine, keine Zwänge und keine Verpflichtungen. Der Bulli war unser zu Hause. Wir hatten alles was wir brauchten auf nicht mehr als drei Quadratmetern und es störte uns nicht. Wir hatten Zeit für uns.
Meine Mission, die komplette Tour ohne Haare zu meistern, war letztendlich keine Mission. Es war ein Geschenk an mich selber. Ich habe wieder ein Stück weit mehr zu mir gefunden. Die Gedanken, dass ich keine Haare trug, ploppten nur sehr selten auf und dann auch nur aufgrund menschlicher Reaktionen Dritter, meistens auf den Campingplätzen. Hin und wieder bemerkte ich irritierte Blicke, beispielsweise in den Frauenduschbädern, wenn ich zum allmorgendlichen Duschszenario meine Mütze abnahm. Besonders Kleinkinder konnten die Blicke nicht von mir lassen. Ich nahm es entspannt. Wäre ich 7 Jahre und würde schlaftrunken mit Zahnbürste in der Hand ins Bad stürmen und als erstes eine Frau mit Glatze erblicken, würde ich auch erstmal nicht darauf klarkommen. Ich fand es gut, in dem Moment ihr Weltbild so radikal zu erweitern, sie mit der Realität und unserer Diversität zu konfrontieren. Ich war etwas Neues und Ungewohntes, etwas was sie sich nicht erklären konnten und doch verhielt ich mich völlig weiblich, schminkte mich, band mir ein Tuch um den Kopf und legte meinen Schmuck an.
Wurde es sehr heiß unter dem Tuch oder drückte ein Knoten oder ähnliches am Kopf, fühlte ich mich so frei, das Tuch für eine Zeit abzunehmen. Etwas was ich mir vor einem Jahr noch nicht getraut hätte, war nun für mich total logisch und klar.
Der Weg zu meiner Freiheit
Die Ungezwungenheit des Roadtrips hat mich einen entscheidenden freidenkenden Schritt weitergebracht. Das Gefühl habe ich aufgesogen und genossen.
Natürlich ist es für mich nach dem Urlaub nicht automatisch das Natürlichste und Normalste auf der Welt mit Glatze oder einem Tuch auf dem Kopf durchs Leben zu schreiten. Es hat mich aber entkrampfter diesbezüglich werden lassen. Ich ertappe mich dabei wie ich in meiner Freizeit vermehrt auf Tücher zurückgreife oder mich vereinzelt sogar ohne dergleichen zeige.
Umso öfter ich Tücher und Mützen verwende oder meine Glatze als mein Accessoire nutze, umso weniger habe ich das Gefühl im Fokus der Blicke Fremder zu stehen, da ich meinen 360 Grad Scanblick zunehmend abschalten kann.
Die Bullitour hat mir gezeigt, was ich, ohne es zu merken, so sehr verdrängt habe. Etwas, dass ich vermisse und dessen Empfindung mich glücklich macht.
Mein Gefühl von Freiheit.
Wie unser Roadtrip begann, lest ihr im 1. Teil unserer Reise.