Im November/Dezember 2015, zu einer Zeit in der ich selber gerade erst anfing zu realisieren, was mit mir und meinem äußerlichen Ich passiert und ich zudem noch nicht im Ansatz wusste wohin mich mein Weg mit Alopecia tragen wird, entschied ich mich für die direkte Konfrontation meines beruflichen Umfeldes mit dem Thema.
Ich hatte nicht die Zeit und die Zwanglosigkeit mich in aller Ruhe mit den kommenden Veränderungen auseinanderzusetzen.
Ich ging zum Teil sehr kaltherzig und hart mit mir ins Gericht. Nur so konnte ich jeden kommenden Tag durchziehen. Augen zu und rasch durch den verzauberten, düsteren und gruseligen Wald, war wie so oft meine Devise.
Auch meinem beruflichen Umfeld ließ ich, als Konsequenz meines persönlichen Umgangs mit Alopecia, nicht viel Zeit zum Luftholen. Ich legte das Thema meinen Kollegen knallhart vor. Es lag mir fern Mitleid oder Rücksichtnahme zu erhaschen.
Meine Intention bestand darin, gar nicht erst damit anzufangen, mich vor den Menschen, die ich die meiste Zeit des Wochentages an meiner Seite habe, zu verstecken. Zudem wollte ich eventuellen Verbreitungen von Halbwahrheiten zuvorkommen und sie im Keim ersticken. Ich wäre sonst nicht mehr Herrin meiner Selbst gewesen.
Rückwirkend betrachtet war es die beste Entscheidung, die ich treffen konnte.
Kollegen und Galgenhumor ist eine ausgesprochen gute Kombination zum Arbeiten
Ich arbeite für einen privaten Träger in einer Kindertagesstätte und habe täglich mit ca. 20 Kollegen zu tun. Doch damit nicht genug. Hinzu kommen allein in meinem Tätigkeitsbereich 70 Kinder im Alter zwischen 3 und 6 Jahren.
Die Rede ist hier also von fast 100 kleinen und großen Persönlichkeiten, denen ich gewillt war von meiner Erkrankung zu berichten. Ich setzte mein Vertrauen in die Offenheit und Entspanntheit meines Gegenübers, mit der er mir entgegen treten wird.
In Absprache mit meiner Kitaleiterin, die nebenbei bemerkt mich auf eine sehr empathische Weise, von Beginn meiner Erkrankung unterstützte, entschied ich mich meinen Kollegen auf dem letzten großen Team-Meeting, bevor es in die Weihnachtsschließung ging, von meiner Erkrankung Alopecia Areata zu berichten und welche Veränderungen in nächster Zeit noch bei mir auftreten könnten.
Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch ein paar Haare auf dem Kopf. Der Ausfall war jedoch schon so weit fortgeschritten, dass ich meine Wohnung nicht mehr ohne Mütze verlassen wollte. Die Hoffnung, dass die paar Haarsträhnen, die ich noch besaß, bleiben werden und meine fehlenden Haare bald wieder anfangen nachzuwachsen, ich also nur abwarten müsse, machte es mir möglich tagtäglich aufs Neue in die Welt hinauszutreten.
Als das Meeting sich dem Ende näherte, alle Themen soweit besprochen wurden, verwies die Leitung auf mich und ich erzählte frei heraus was bei mir los war. Ich hatte nix vorbereitet und redete so wie mir meine Gedanken Worte im Mund formten. Ich sah Verblüffung in vielen Augen. Es flossen Tränen. Ein Aha-Effekt setzte ein und jeder stellte die Fragen, die ihm zu dem Thema Alopecia auf dem Herzen lagen.
Es war ein sehr aufrichtiger Moment und ich spürte die Dankbarkeit meiner Kollegen. So geriet keiner in die Situation Unsicherheiten im Umgang mit mir verbergen zu müssen. Es war von Anfang an klar, dass mir Direktheit bezogen auf meine Erkrankung lieber ist als Unausgesprochenes und Distanz.
So verhält es sich bis heute. Meine Kollegen haben mich mit ganz viel Empathie und dem nötigen Galgenhumor bis zu meiner endgültigen Glatze begleitet. Auch das Thema Perücken und andere kosmetische Eingriffe, teile ich mit ihnen und hole mir von dem einen oder anderen sogar Ratschläge. Dadurch, dass ich sehr unverblümt mit der Thematik Alopecia Areata umgehe, wissen alle, dass sie mir offen und interessiert gegenüber treten können.
Unverfälschter Kindermund
Bei den Kindern, die ich betreue, gestaltete sich die Bekanntmachung meiner Erkrankung ganz anders. Ich überlegte mir genau wie ich vorgehen werde. Es lag mir sehr am Herzen es ihnen so behutsam und trotzdem schamlos wie nur möglich zu erklären – Keine einfache Aufgabe.
Ich nutzte dafür das Kinderbuch – „Samus ganzer Stolz: Ich bin anders. Na und?“, welches ein Elternpaar für ihren, an Alopecia erkrankten Sohn schrieb.
Indem Buch verliert ein hübscher junger Igel alle seine Stacheln. Er fühlt sich unglücklich und ungeliebt. Doch ein hübsches Igelmädchen zeigt ihm, dass es nicht auf das Äußere ankommt.
Frühjahr 2016: Ich trug schon Perücke und fühlte ich mich nun bereit für den ehrlichen Kindermund. Da wir so viele Kinder in meinem Bereich betreuen, teilte ich sie in Gruppen von maximal 8 Kinder auf und wir verkrochen uns jeweils gemeinsam in die Kuschelecke unserer Bibliothek. Wir zogen die Schuhe aus, holten uns noch mehr Kissen, machten es uns gemütlich und ich las ihnen das Kinderbuch vor. Anschließend redeten wir über den Inhalt. Ich holte mir die Meinungen und Gefühle der Kinder ein. Danach erzählte ich ihnen, dass es mir genauso ergeht wie der Figur in dem Buch. Darüber hinaus erklärte ich ihnen, was eine Perücke ist, jeder durfte meine Haare berühren und ich zeigte ihnen, indem ich die Perücke an der Schläfe leicht anhob, wie ich darunter aussehe.
Ganz unverhüllt schossen ihre Gedanken eilig aus den kleinen Mündern, die Augen strahlten vor Neugier und sie schnatterten alle gleichzeitig los. Ihre Erzählungen und Anmerkungen waren ungelenkt. Sie waren nicht vorgebildet oder gar verfälscht. Die Kinder empfanden in Alopecia nichts bedauernswertes, wodurch ihre Reaktionen und Schilderungen in einem aufrichtigem Ton erklungen.
Es fiel ihnen sofort auf wie großartig es ist eine Perücke zu tragen. Ich kann nachts meine Haare abnehmen, wie eine Mütze und am nächsten Morgen habe ich keine Schmerzen, wenn jemand meine Haare kämmt. Sie sind durch das Kopfkissen nicht ein bisschen verziept. Es fiel ihnen augenblicklich ein, dass ich auch keine Haare mehr waschen muss. Sie erzählten sehr ärgerlich, dass es ihnen immer in den Augen brennt, wenn sie die Haare gewaschen bekommen. Es wäre doch viel spaßiger, wenn die Haare abnehmbar wären. Dann könnten sie länger spielen und müssten nicht ständig in die Badewanne.
Nach kurzer Zeit war die ganze Angelegenheit auch schon wieder für meine Kinder erledigt.
Sie schauten sich noch einmal die Bilder des Kinderbuches an und begannen allmählich sich anderen Büchern der Bibliothek zuzuwenden.
Normalität in der Arbeit
Im täglichen Umgang mit meinen Stöpseln passiert es mehrmals täglich, dass sie meine Nähe suchen, wenn sie müde sind oder kuscheln wollen. Manchmal wollen die Mädels meine Haare frisieren oder die Kleinen halten sich in einem unbedachten Moment daran fest. Sie fassen mir gerne mal mit ihren kleinen Händen ins Gesicht, wenn ich sie hochhebe. Dadurch kann natürlich hin und wieder etwas leicht verrutschen oder meine aufgemalten Augenbrauen verwischen an der einen oder anderen Stelle. Es ist für sie völlig normal, wenn ich es in dem Moment des Geschehens wieder richte oder die etwas größeren Kinder darauf hinweise auf meine Perücke zu achten.
Nichts Besonderes, so soll es auch sein.
Ein offener und vertrauter Umgang gegenüber den Kindern, ist mir in meiner Arbeit sehr wichtig. Es liegt mir fern ein Mysterium aus meiner Erkrankung zu machen. Vielmehr möchte ich Stärke und Toleranz ausstrahlen und den Kindern vermitteln, dass verschiedene Individualitäten eine Vielfalt ermöglichen, die uns kreativ werden lässt und wir nur dadurch über uns hinaus wachsen können.